Das Ziel der Forschungsarbeit besteht darin, die baukünstlerischen Ausformungen des Heimatstils für die Schweiz in ihrem architektonischen und denkmalpflegehistorischem Umfeld zu sichten, sie in ihren geistesgeschichtlichen Kontext zu stellen und auf ihre ideologische Genese sowie politische Instrumentalisierungen kritisch abzufragen.
Das heutige Wissen zum Schweizer Heimatstil ist rudimentär. Nur
wenige Publikationen beschäftigen sich mit dem Heimatstil. Das gilt
nicht nur für der Schweiz, sondern für viele europäischen
Länder, in denen für dasselbe Phänomen allerdings andere
Bezeichnungen gebräuchlich sind (Heimatschutzstil [Österreich,
Deutschland], Nationale Romantik [England, Finnland, Polen], "Regionalismus"
[Frankreich]). Oft wird die Architektur des Heimatstils fälschlicherweise
unter den Schweizer Holzstil (style chalet suisse) subsumiert. Der Heimatstil
ist eine stark ideologisierte, den Historismus überwindende Baukunst
und hängt mit der Heimatschutzbewegung zusammen, die, seit 1903 von
Deutschland ausgehend, 1905 in der Schweiz Fuss fasst. Für die Schweiz
sind Einflüsse aus Finnland, Belgien und England nachweisbar. Die
kulturvergleichende Methode zwischen der Deutschschweiz und der Romandie
(incl. Tessin) verspricht das bestehende deutschlastige Bild (Debatte nationalsozialistische
Architektur) zu korrigieren. Eine sachliche Bewertung dieser Alltagsbaukunst
zwischen Historismus und Moderne fehlt völlig. In der Schweiz sind
in den letzten Jahren Fortschritte in der Grundlagenforschung im Rahmen
des Inventars der Neueren Schweizer Architektur 1850-1920 (INSA) erzielt
worden, sodass hier das in den kantonalen und kommunalen Denkmalpflegeämtern
erschlossene Material wissenschaftlich ausgewertet werden und, als Ziel,
in die Denkmalpflegepraxis zurückfliessen soll. Meine aus mehrjähriger
Berufserfahrung gewonnene Einsicht in die Notwendigkeit der Aufarbeitung
des Heimatstils führte zu einer ersten Untersuchung für den Zürcher
Raum (Elisabeth Castellani Zahir: Volkslied in der Baukunst? Heimatstilarchitektur
in Zürich am Vorabend der Moderne (1905-1914). In: Jahrbuch für
Hausforschung, 45, Marburg 1997). Mein Forschungsprojekt beinhaltet u.a.
folgende Hypothesen, aus denen sich die zentralen Themenstellungen ergeben.
Erstens: Der Schweizer Heimatstil war bis 1914 sowohl regional als
auch national.
Die zentrale Frage ist die nach dem Verhältnis von regionalen
zu nationalen Komponenten, da die Heimatstilideologie eine regionale, auf
alten handwerklichen Traditionen basierende Schweizer Baukunst im Sinne
einer nationalen neuen Baukunst wieder aufleben lassen und die alten Vorbilder
für zeitgenössisches modernes Bauen zur Verfügung stellen
wollte. Eine damit zusammenhängende Thematik von möglicherweise
internationaler Tragweite fragt nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten
des Schweizer Heimatstils in den verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen.
Die geographisch kleine, aber multikulturelle Schweiz in der Mitte Europas
bietet sich dazu als übersichtlicher Untersuchungsraum in idealer
Weise an. Zum Erfassen des Phänomens Heimatstil an der Schaltstelle
zwischen Historismus und Moderne muss die Frage nach seinen im 19. Jahrhundert
liegenden Wurzeln gestellt werden. Dazu gehören die Agrarromantik,
der Schweizerische Bauern- und Hirtenmythos und der grossstadtfeindliche
"Dörfligeist", der sich mit dem Village Suisse 1896 auf der Landesausstellung
in Genf salonfähig gab, 1900 auf der Weltausstellung in Paris international
ausstrahlte und 1914 auf der Landesausstellung in Bern nationale Pflicht
wurde.
Zweitens: Bis 1914 war der Schweizer Heimatstil international.
Die Heimatstilarchitektur ist nicht von der ab 1905 in der Schweiz
schnell populär werdenden Heimatschutzbewegung zu trennen. Von Anfang
an trat sie bewusst zweisprachig, deutsch und französisch, auf und
hatte mit Genf, Bern und Zürich starke Ausstrahlungszentren, sowohl
in der Romandie, als auch in der Deutschschweiz (das Tessin kam später
hinzu). Es gab ab 1906 einen englischen Zweigverein des Schweizer Heimatschutzes
in London und zudem wurde die Gründung einer Pariser Sektion beschlossen.
Mit dem Heimatschutz verwandt und teilweise in Personalunion verbunden
war die englisch inspirierte Gartenstadtbewegung z.B. in Zürich. Heimatschutzkreise
pflegten Beziehungen nach Finnland, wie sich anhand des Badischen Bahnhofs
in Basel zeigen lässt.
Drittens: Die Schweizer Heimatschutzbewegung verfügte über
modernste publizistische Transmissionsriemen für ihre Ideen und beherrschte
die Medien.
In das nähere Umfeld von Heimatschutz gehören Berufsverbände
und Institutionen wie der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein
(SIA), Bund Schweizerischer Architekten/Féderation des Architectes
Suisse (BSA-FAS) oder der Schweizerische Werkbund (SWB) aber auch Publikationsorgane
wie der verbandseigene "Heimatschutz", auf französisch "Bulletin de
la Ligue pour la conservation de la Suisse pittoresque", die Schweizerische
Bauzeitung und die Schweizerische Baukunst, die zur erfolgreichen Propagierung
der Heimatstilideologie in alle sozialen Schichten beitrugen. Zudem gab
es die nationalen Inventarisationswerke zur Schweizerischen Profanarchitektur
(Burgen, Bauern- und Bürgerhäuser). Vor allem die seit 1910 erscheinende
Bürgerhausreihe diente der wissenschaftlichen Erfassung "alter" Schweizer
Baukunst in ihren regionalen Ausformungen.
Mit den Anfängen der Heimatschutzbewegung sind illustre Persönlichkeiten
verbunden. So in der Westschweiz der Freiburger Georges de Montenach, die
Genfer Guillaume Fatio und Henry Baudin oder die Walliser Künstlerin
Marguerite Burnat-Provins. In der deutschen Schweiz waren bekannte Namen
in Zürich Albert Baur und Casimir Herman Baer oder in Bern der Architekt
Karl Indermühle.
Das Forschungsprojekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt.
Geplant ist die landesweite, exemplarische Darstellung der baulichen Entwicklung
des Schweizer Heimatstils und seiner architektonsischen wie ideologischen
Wurzeln. Methodisches Instument ist ein kontextueller Ansatz. Der zeitliche
Schwerpunkt liegt auf der ersten Phase des Heimatstils zwischen 1905 und
1914, weil hier die grundsätzlichen Charakteristiken auch der nachfolgenden
Neuauflagen des Zweiten Heimatstils der Zeit zwischen 1920 und 1940 gültig
formuliert werden. Seine Erforschung auf dem Transmissionsriemen zwischen
Historismus und Moderne soll eine Lücke in der Schweizer Architekturgeschichtsschreibung
schliessen und der Denkmalpflege entsprechende Beurteilungskriterien für
diese Baukultur bereitstellen.
Darüberhinaus sollen die Ergebnisse in den Gesamtzusammenhang
des europäischen Phänomens von Heimatstilbewegungen gestellt
werden, die nach derzeitiger Kenntnis vor allem in Ländern Nord-,
Mittel- und Osteuropas auftraten (Deutschland, Österreich- Ungarn,
England, Polen, Finnland etc.). Wichtig ist es, den Heimatstil als eigenständige
Baukultur zu begreifen und aus der deutschen Faschismusarchitekturdiskussion
herauszulösen. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang dürfte
die selten gestellte Frage nach Heimatstil in romanischen Kulturkreisen
sein (Belgien, Frankreich, Italien), auf die sich über die Westschweiz
und das Tessin als "Eurolabor" Antworten erhoffen lassen auf die Frage:
Wie international ist "nationale Romantik"?
Dr. Elisabeth Castellani Zahir
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Basel, den 15.12.98