ZWEITES NACHWUCHSKOLLOQUIUM DER KUNSTHISTORIKERINNEN UND KUNSTHISTORIKER IN DER SCHWEIZ

INSTITUT FÜR KUNSTGESCHICHTE, UNIVERSITÄT BERN 

Elisabeth Castellani Zahir

Nichts Internationaleres, als die "Nationale Romantik"? Architekturforschung zum Schweizer Heimatstil 1900 bis 1914.




Ergänzende Bemerkungen zum Abstract

Das Ziel der Forschungsarbeit besteht darin, die baukünstlerischen Ausformungen des Heimatstils für die Schweiz in ihrem architektonischen und denkmalpflegehistorischem Umfeld zu sichten, sie in ihren geistesgeschichtlichen Kontext zu stellen und auf ihre ideologische Genese sowie politische Instrumentalisierungen kritisch abzufragen.

Das heutige Wissen zum Schweizer Heimatstil ist rudimentär. Nur wenige Publikationen beschäftigen sich mit dem Heimatstil. Das gilt nicht nur für der Schweiz, sondern für viele europäischen Länder, in denen für dasselbe Phänomen allerdings andere Bezeichnungen gebräuchlich sind (Heimatschutzstil [Österreich, Deutschland], Nationale Romantik [England, Finnland, Polen], "Regionalismus" [Frankreich]). Oft wird die Architektur des Heimatstils fälschlicherweise unter den Schweizer Holzstil (style chalet suisse) subsumiert. Der Heimatstil ist eine stark ideologisierte, den Historismus überwindende Baukunst und hängt mit der Heimatschutzbewegung zusammen, die, seit 1903 von Deutschland ausgehend, 1905 in der Schweiz Fuss fasst. Für die Schweiz sind Einflüsse aus Finnland, Belgien und England nachweisbar. Die kulturvergleichende Methode zwischen der Deutschschweiz und der Romandie (incl. Tessin) verspricht das bestehende deutschlastige Bild (Debatte nationalsozialistische Architektur) zu korrigieren. Eine sachliche Bewertung dieser Alltagsbaukunst zwischen Historismus und Moderne fehlt völlig. In der Schweiz sind in den letzten Jahren Fortschritte in der Grundlagenforschung im Rahmen des Inventars der Neueren Schweizer Architektur 1850-1920 (INSA) erzielt worden, sodass hier das in den kantonalen und kommunalen Denkmalpflegeämtern erschlossene Material wissenschaftlich ausgewertet werden und, als Ziel, in die Denkmalpflegepraxis zurückfliessen soll. Meine aus mehrjähriger Berufserfahrung gewonnene Einsicht in die Notwendigkeit der Aufarbeitung des Heimatstils führte zu einer ersten Untersuchung für den Zürcher Raum (Elisabeth Castellani Zahir: Volkslied in der Baukunst? Heimatstilarchitektur in Zürich am Vorabend der Moderne (1905-1914). In: Jahrbuch für Hausforschung, 45, Marburg 1997). Mein Forschungsprojekt beinhaltet u.a. folgende Hypothesen, aus denen sich die zentralen Themenstellungen ergeben.
Erstens: Der Schweizer Heimatstil war bis 1914 sowohl regional als auch national.
Die zentrale Frage ist die nach dem Verhältnis von regionalen zu nationalen Komponenten, da die Heimatstilideologie eine regionale, auf alten handwerklichen Traditionen basierende Schweizer Baukunst im Sinne einer nationalen neuen Baukunst wieder aufleben lassen und die alten Vorbilder für zeitgenössisches modernes Bauen zur Verfügung stellen wollte. Eine damit zusammenhängende Thematik von möglicherweise internationaler Tragweite fragt nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten des Schweizer Heimatstils in den verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen. Die geographisch kleine, aber multikulturelle Schweiz in der Mitte Europas bietet sich dazu als übersichtlicher Untersuchungsraum in idealer Weise an. Zum Erfassen des Phänomens Heimatstil an der Schaltstelle zwischen Historismus und Moderne muss die Frage nach seinen im 19. Jahrhundert liegenden Wurzeln gestellt werden. Dazu gehören die Agrarromantik, der Schweizerische Bauern- und Hirtenmythos und der grossstadtfeindliche "Dörfligeist", der sich mit dem Village Suisse 1896 auf der Landesausstellung in Genf salonfähig gab, 1900 auf der Weltausstellung in Paris international ausstrahlte und 1914 auf der Landesausstellung in Bern nationale Pflicht wurde.
Zweitens: Bis 1914 war der Schweizer Heimatstil international.
Die Heimatstilarchitektur ist nicht von der ab 1905 in der Schweiz schnell populär werdenden Heimatschutzbewegung zu trennen. Von Anfang an trat sie bewusst zweisprachig, deutsch und französisch, auf und hatte mit Genf, Bern und Zürich starke Ausstrahlungszentren, sowohl in der Romandie, als auch in der Deutschschweiz (das Tessin kam später hinzu). Es gab ab 1906 einen englischen Zweigverein des Schweizer Heimatschutzes in London und zudem wurde die Gründung einer Pariser Sektion beschlossen. Mit dem Heimatschutz verwandt und teilweise in Personalunion verbunden war die englisch inspirierte Gartenstadtbewegung z.B. in Zürich. Heimatschutzkreise pflegten Beziehungen nach Finnland, wie sich anhand des Badischen Bahnhofs in Basel zeigen lässt.
Drittens: Die Schweizer Heimatschutzbewegung verfügte über modernste publizistische Transmissionsriemen für ihre Ideen und beherrschte die Medien.
In das nähere Umfeld von Heimatschutz gehören Berufsverbände und Institutionen wie der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA), Bund Schweizerischer Architekten/Féderation des Architectes Suisse (BSA-FAS) oder der Schweizerische Werkbund (SWB) aber auch Publikationsorgane wie der verbandseigene "Heimatschutz", auf französisch "Bulletin de la Ligue pour la conservation de la Suisse pittoresque", die Schweizerische Bauzeitung und die Schweizerische Baukunst, die zur erfolgreichen Propagierung der Heimatstilideologie in alle sozialen Schichten beitrugen. Zudem gab es die nationalen Inventarisationswerke  zur Schweizerischen Profanarchitektur (Burgen, Bauern- und Bürgerhäuser). Vor allem die seit 1910 erscheinende Bürgerhausreihe diente der wissenschaftlichen Erfassung "alter" Schweizer Baukunst in ihren regionalen Ausformungen.
Mit den Anfängen der Heimatschutzbewegung sind illustre Persönlichkeiten verbunden. So in der Westschweiz der Freiburger Georges de Montenach, die Genfer Guillaume Fatio und Henry Baudin oder die Walliser Künstlerin Marguerite Burnat-Provins. In der deutschen Schweiz waren bekannte Namen in Zürich Albert Baur und Casimir Herman Baer oder in Bern der Architekt Karl Indermühle.
Das Forschungsprojekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Geplant ist die landesweite, exemplarische Darstellung der baulichen Entwicklung des Schweizer Heimatstils und seiner architektonsischen wie ideologischen Wurzeln. Methodisches Instument ist ein kontextueller Ansatz. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf der ersten Phase des Heimatstils zwischen 1905 und 1914, weil hier die grundsätzlichen Charakteristiken auch der nachfolgenden Neuauflagen des Zweiten Heimatstils der Zeit zwischen 1920 und 1940 gültig formuliert werden. Seine Erforschung auf dem Transmissionsriemen zwischen Historismus und Moderne soll eine Lücke in der Schweizer Architekturgeschichtsschreibung schliessen und der Denkmalpflege entsprechende Beurteilungskriterien für diese Baukultur bereitstellen.
Darüberhinaus sollen die Ergebnisse in den Gesamtzusammenhang des europäischen Phänomens von Heimatstilbewegungen gestellt werden, die nach derzeitiger Kenntnis vor allem in Ländern Nord-, Mittel- und Osteuropas auftraten (Deutschland, Österreich- Ungarn, England, Polen, Finnland etc.). Wichtig ist es, den Heimatstil als eigenständige Baukultur zu begreifen und aus der deutschen Faschismusarchitekturdiskussion herauszulösen. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang dürfte die selten gestellte Frage nach Heimatstil in romanischen Kulturkreisen sein (Belgien, Frankreich, Italien), auf die sich über die Westschweiz und das Tessin als "Eurolabor" Antworten erhoffen lassen auf die Frage: Wie international ist "nationale Romantik"?

Dr. Elisabeth Castellani Zahir
Holbeinstrasse 77 A
4051 Basel,
Tel/Fax: 061/281 87 06   e-mail ecz@compuserve.com  Basel, den 15.12.98



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